artpreview · 2018

Alexander Langkals M.A.

Ausstellungsvor- und Rückschauen der Sezession Nordwest e. V., Wilhelmshaven

Oktober-November

Angelika Glaub, ohne Titel, 2016, Gelatine-Druck

Angelika Glaub

„'es' – das Bild … hat immer das letzte Wort". Doch wie das gesprochene Wort verklingt, so löst sich die Sezession Nordwest im Anschluss an die Schau von Angelika Glaub nach 16 Jahren und über 200 Ausstellungen auf. Zurück bleiben Erinnerungen und bildhafte Zeugnisse an eine nicht allein für die Mitglieder prägende Zeit.

Am 4. Oktober eröffnet die Sezession Nordwest in Wilhelmshaven unter dem Titel „‘es‘ – das Bild … hat immer das letzte Wort“ ihre voraussichtlich letzte reguläre Ausstellung. Angelika Glaub zeigt neben einem Querschnitt durch ihr Werk auch jüngste Arbeiten. Dirk Meyer aus Oldenburg wird die wohl letzte Einführung halten. Unter dem Motto „Kunst im Gespräch“ erwartet die Künstlerin am 12. November um 19.00 Uhr interessierte Besucher zu einem persönlichen Austausch über ihre Arbeiten.

„Mein Einfluss auf diese Bilder ist eher gering, die Formatgröße, das Malmaterial, die Farbe – damit hört es schon auf! Die Farbauswahl entspringt der persönlichen Befindlichkeit, der Schwung, die Gestik, nichts ist vorgegeben, alles entsteht im Dialog mit dem Bild, um aus dem Unbewussten eine neue Wirklichkeit entstehen zu lassen.“

Ihre Äußerung belegt die Künstlerin mit Bildern wie „es schmerzt“ (2017) oder „es steigt“ (2016). Darin erscheinen vermeintlich bekannte Versatzstücke wie eine auflaufende Wasserwelle an einem unidentifizierbaren Uferbereich. Im ersterwähnten Fall mag es ein Fensterkreuz sein, das von einem roten Energiewirbel umspielt wird. Generell kennzeichnet diese Arbeiten eine starke Farbigkeit von sowohl flüssig verlaufenden wie auch pastos materialisierten Partien.

Ungleich reduzierter ist die Farbpalette von Monotypien, die in einem recht außergewöhnlichen Gelatine-Druckverfahren entstehen. Mit teils nur einer gebrochenen Lokalfarbe in mildem Kontrast mit in der Intensität variierten getönten Graustufen werden streng orthogonal platzierte Farbfelder aufgetragen, die maßgeblich durch unterschiedlichste Oberflächenstrukturen geprägt und belebt sind. Hier sind keine bekannten Versatzstücke aufzuspüren; und auch das Fehlen von Bildtiteln zielt auf eine emotionale, gefühlsbetonte Wahrnehmung des Betrachters, der erst in einem darauf folgenden Schritt in eine intellektuelle Auseinandersetzung treten mag.

Im Jahr 2002 beschlossen zehn Kunstschaffende aus Wilhelmshaven und dem Umland, für sich und weitere Künstler aus der Region eine Vereinigung mit Ausstellungsräumlichkeiten zu schaffen. Neben der Präsentation aktueller Kunst war die Begegnung mit Gleichgesinnten und Kunstinteressierten ihr zentrales Anliegen. Nach über 200 Ausstellungen wird sich am 30. November die Tür zur Sezession Nordwest vermutlich zum letzten Mal öffnen. Ob die Gründer, von denen einige bereits vor Jahren ein letztes Mal durch diese Tür hindurchgegangen sind, vor mittlerweile sechzehn Jahren mit einem derart langen gemeinsamen Weg gerechnet hätten, bleibt fraglich. Gewiss jedoch bleiben Erinnerungen, nicht nur an Ausstellungen, sondern an Gemeinschaft mit freudigem, anregendem und interessantem Austausch – und viele, viele Bilder. Mir, als seit über 35 Jahren in Süddeutschland lebendem Wilhelmshavener war die Sezession mit ihren Akteuren eine Brücke in die Heimat. Ich bedauere ihr Ende.

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Angelika Glaub, es steigt, 2016

Angelika Glaub, es schmerzt, 2017

August-September

Nicolaus Bornhorn, Japan Hafen - Marseille, Kohle Transparentpapier (Ausschnitt)

Nicolaus Bornhorn

Unter den Titel „Genius Loci“ - der „Geist des Ortes“ stellt Nicolaus Bornhorn Werke unterschiedlichster Gattungen, die Zeugen seiner Anwesenheit an verschiedensten Orten der Welt zu sein behaupten. Dabei wird neben inhaltlichen auch die Frage der Wahrhaftigkeit dieser Aussage gestellt. Seine Eindrücke lässt Bornhorn nicht allein in bildhaftende Arbeiten fließen, auch dem Wort verleiht er viel Raum.

„Wenn ich allein nach Goa, Cuba oder China aufbreche, wenn ich Japaner bin und nach Europa fliege, um die Hauptstädte zu besichtigen, welche Beweise habe ich später dafür, dort gewesen zu sein? Die Abwesenheit (dies ist kein Beweis: Ich könnte mich verstecken); mein Bericht (er könnte erfunden sein); das Zeugnis anderer Reisender, denen ich begegnet bin (doch müsste man sich in Verbindung mit ihnen setzen können). Bleiben die Fotografien, die Filme. ‚Ich und der Eifelturm‘. ‚Ich und der schiefe Turm von Pisa.‘ Ist dies ein Beweis? Ist kein Betrug möglich? (Und doch, zerlegt der Computer heutzutage das Bild nach Belieben, setzt es neu zusammen.)

Ich habe also von meinen Reisen durch Frankreich Fotografien mitgebracht. Eine Vielzahl von Fotografien. Ebenso viele Beweise meiner Anwesenheit. Der Zuschauer, Sie, kennt sich darin aus, erkennt diese Landschaft, jenes Detail wieder. ‚Ah, erinnerst du dich, als …‘. Ich erhebe also Anspruch auf Authentizität dieser ‚Dokumente‘. Ich habe Spuren der durchfahrenen Straßen mitgebracht, habe diese Baumrinde, jene Felsoberfläche ‚kopiert‘, bin ein-geschritten, inter-veniert … Und die Fotografien, die ich mitgebracht habe von diesem Nomadenleben, habe ich nicht nur aufgenommen, um sie zu zeigen, sondern auch, um sie wieder zu sehen, auf den eigenen Spuren zu wandeln.“

Nicolaus Bornhorn, der vom 2. August bis zum 23. September in der Sezession Fotografien und Frottagen aus seinem „Nomadenleben“ ausstellt, schreibt nicht nur diese Zeilen, die einen sehr persönlichen Einblick in die Motivation seines künstlerischen Schaffens zeigen. Neben seinen fotografischen, filmischen und grafischen Arbeiten ist die Sprache ein Werkzeug, dessen er sich ebenfalls intensiv bedient. In mehreren Büchern „malt“ er mit Worten bildmächtige Naturgeschichten aus verschiedenen Winkeln der Erde oder schildert eine letzte, tiefe Begegnung zweier Freunde auf einer gemeinsamen Reise – wiederum vor dem „Hintergrund“ der wunderbaren Natur der Provence.

Der aus dem Südoldenburger Dinklage stammende Künstler studierte von 1969 bis 1974 in Heidelberg und Hamburg neben Mathematik, Psychologie und Soziologie auch Filmtheorie. Die anschließenden Jahre verbrachte er in Aix-en-Provence, arbeitete als Autor, Übersetzer sowie als Dolmetscher. 1980 veröffentlichte er bei Suhrkamp seine ersten Erzählungen und schuf einen Experimentalfilm. Seine Weltoffenheit spiegeln die weiteren Lebensstandorte: Bis 1994 kamen Frankfurt und Marseille hinzu, wo neben Fotografien erste Frottagen im Hafen entstanden. In Bad Zwischenahn ließ er sich schließlich nieder. Reisen nach Indien und Kuba im Jahr 2000 belegen seine weiterhin ungebrochene Lust auf die Welt.

Der Titel seiner Ausstellung, „Genius Loci“ – der „Geist des Ortes“, in der römischen Mythologie ein Schutzgeist –, zielt auf die jeweiligen örtlichen Besonderheiten, die Bornhorn künstlerisch zu ergründen sucht. Dabei fällt der Blick einerseits auf das Große, das Gesamte. Daneben – und überhaupt nicht nebensächlich – wird der Blick auf das Detail, auf das Kleine, das am Rande Liegende gerichtet. „Aufgenommen“ mit der Kamera oder direkter, mit Hand und Stift vom Objekt abgenommen. Mittels Frottage, der alten, einfachen und „ehrlichen“ Durchreibetechnik werden Oberflächenstrukturen als 1:1-Kopie eingefangen. Mit der Identifizierbarkeit eines Fingerabdrucks, bewahrt die Frottage wie dieser einen Zustand wie in einer zweidimensionalen Zeitkapsel; in manchen Fällen nicht nur für das Auge, sondern auch für eine sensible Hand.

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Nicolaus Bornhorn, Intervention Die Katze

Nicolaus Bornhorn, Japan Hafen - Marseille, Kohle Transparentpapier

Nicolaus Bornhorn, Frottage XI, Kohle

Nicolaus Bornhorn, Frottage XI,
Abtei Cremieux, Kohle

Juni-Juli

Michael Schildmann, Deich W'haven, 2014, Fotografie (Ausschnitt)

Michael Schildmann & Frank Schuppan

„Positionen. Blau – ein Foto ist kein Foto ist ein Foto“

Wer macht es nicht: Ob im Urlaub, im Freundeskreis, ob angesichts von Sehenswürdigkeiten oder arrangierten Speisen – das Smartphone wird gezückt und die Szenerie gebannt. Die Begeisterung über das eigene Ego findet im Selfie seine Erfüllung. Die Aufmerksamkeit auf solcherart geschossene Fotos erschöpft sich häufig schon im Kontrollblick. Meist geht es dann ab in die Cloud oder zu tausenden auf Speicherkarten, die kleiner als manch Fingernagel sind.

Wie anders „funktioniert“ da die analoge Fotografie. Keine Kontrolle des geschossenen Bildes im darauffolgenden Moment. Gespanntes Abwarten, Gedulden, bis nach Tagen oder Wochen die Abzüge in die Hand genommen werden können. Eine Erwartungshaltung baut sich in der Zwischenzeit auf, die beim Gelingen zur Freude, ansonsten zur Enttäuschung wird.

Inhalt, Medium und Präsentationsweise gemeinsam bestimmen den Grad der Aufmerksamkeit, die eine Fotografie erfährt. Ein Abzug, gar noch in ein Album eingeklebt und beschriftet, dürfte im Gegensatz zum Bild auf einem Screen und damit dessen höherer Flüchtigkeit eine größere Aufmerksamkeit erfahren. Noch länger dürfte die Aufmerksamkeit auf Fotos in einer Ausstellung gerichtet sein. Und wenn die Bilder dann noch „entschlüsselt“ werden müssen – wie im Fall der Arbeiten von Michael Schildmann und Fank Schuppan, den derzeitigen Vorsitzenden der Sezession Nordwest –, dann fordert bereits dieser Prozess Konzentration und Aufmerksamkeit. Unter dem Titel „Positionen. Blau – ein Foto ist kein Foto ist ein Foto“ stellen die beiden vom 7. Juni bis zum 24. Juli unterschiedliche fotografische Positionen im SCHAUfenster für aktuelle und regionale Kunst aus.

Der Oldenburger Michael Schildmann zeigte bereits im Februar 2015 „Landschafts“-Fotografien in der Sezession Nordwest, bei denen er den Fokus auf streng begrenzte Ausschnitte richtete und damit ein Moment von Verfremdung und Betonung integrierte. Seine aktuell präsentierten Fotografien sind der Farbe Blau verschrieben. Dabei reicht das Spektrum von verblauenden Dämmerungsaufnahmen am Strand über sich im Blau der Nacht auflösenden Küstenabschnitten und Wolkenformationen über dem Meer bis zu eng gefassten Ausschnitten von Kratz- und Schleifspuren auf Bootsrümpfen.

Frank Schuppan, in der Jugend von Malerei und Grafik beeindruckt, studierte Kunsterziehung in Heidelberg. Zur Kunsterziehung und Kunstvermittlung gesellte sich die aktive Beschäftigung mit Skulptur, später auch mit Fotografie. Im Jahr 2012 verschlug es ihn nach Ostfriesland, wo er neben seiner BBK-Mitgliedschaft an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen hat. In seinen ausgestellten Fotografien spielt Licht eine besondere Rolle. Teils umschmeichelt es nüchterne, eng beschnittene Szenerien mit einer beinahe lyrischen Atmosphäre, teils löst es banale Gegenstände in einer verklärenden Helligkeit auf. Stets ist der streng fokussierende Blick dorthin gerichtet und beachtet etwas, das von einem Smartphone kaum festgehalten werden dürfte.

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Michael Schildmann, Wilhelmshaven, 2015, Fotografie

Michael Schildmann, Deich W'haven, 2014, Fotografie

Frank Schuppan, Beautiful Caeciliengroden, Fotografie

Frank Schuppan, Zaun, Fotografie

April-Mai

Herbert Blazejewicz, o. T., 2017, Alufolie, Acrylfarbe (Ausschnitt)

Herbert Blazejewicz, Licht und Schatten

Mit skulpturalen Objekten aus hartem, transparentem Acrylglas offenbart Herbert Blazejewicz den flüchtigen Zauber von Licht und Schatten; begleitet von "Bildern" aus aufgespannten mehrschichtigen Aluminiumfolien.

„Licht und Schatten“ lautet der Titel der Ausstellung von Herbert Blazejewicz in der Sezession Nordwest vom 5. April bis zum 22. Mai. Ein Titel, der die Frage aufwirft, in welcher Kunst es nicht um eine Auseinandersetzung mit Licht und Schatten geht. Denn ohne Licht keine Malerei, keine Farbe, keine Fotografie, kein Film, keine Grafik oder Zeichnung. Allenfalls die Skulptur käme ohne aus. Auf dass ein Sehender in die Rolle des Blinden träte, um die Formen zu ertasten. Dennoch spielen Licht und Schatten für die Arbeiten von Herbert Blazejewicz eine unmittelbarere Rolle: Hier sind sie keine hintergründigen Basisphänomene, hier sind sie Hauptprotagonisten.

Herbert Blazejewicz wurde 1940 in Wilhelmshaven geboren, nahm bereits 1962/63 an Gemeinschafts­ausstellungen etwa im Kunstverein teil und studierte von 1965 bis 1968 Didaktik der Bildenden Kunst in Olden­burg. In der Folge arbeitete er als Lehrer und ließ sich 1992 vom Schuldienst beurlauben, um wiederum intensiv künstlerisch arbeiten zu können. Seit 2004 ist der in Hude Lebende Mitglied im BBK Oldenburg.

Seit gut 10 Jahren baut er aus Acrylglas Objekte – zunächst geschlossene Gebilde, deren Oberflächen mit Seidenpapier beklebt oder angeraut wurden. In jüngerer Zeit entstehen offene Formen, anschaulich frei schwebende, optisch aufgelöst leichte Objekte. Sie erscheinen neben Licht- und Spiegelreflexionen vor allem durch Schatten, wobei das Tageslicht natur­ge­geben entschieden lebendigere Auswirkungen als Kunstlicht hervorruft.

Eine besondere Spezies der offenen Formen stellen Stelen dar, die auf kleiner Grundfläche an die zwei Meter Höhe erreichen. Da sie in ihrer Gesamtheit nur aus einigem Abstand zu erfassen sind, lösen sie sich – von Reflexionen abgesehen – bis auf ihre Kanten, die als dunkle Linien sichtbar erscheinen, weitgehend auf. In Konsequenz der materiellen Auflösung stehen die Stelen nicht auf Sockeln oder Postamenten, vielmehr wachsen sie aus dem Boden – aus Rasen- oder Kiesflächen.

An die Seite der aus massiven, starren Platten be­ste­henden Acrylglasobjekte treten oberflächenbewegte Objekte aus dünner, mehrschichtiger aufgespannter Alufolie. Auch diese Oberflächen werden teils bis zur Rissbildung aufgeraut; die dortigen Stellen durch Auf- und Abtragen von Acrylfarbe als Spuren betont.

Herbert Blazejewicz sieht sich als Materialist. Bereits zur Schulzeit erkannte er in manch alten Fundstücken eine reizvolle Sinnlichkeit. So wurden etwa verwitterte Banderolen alter Konservendosen als konkrete Bilder gerahmt. Zeitgleich zeichnete er reale Objekte wie etwa Schiffe.

Die aktuellen konkreten Arbeiten benötigen keine Titel; sie haben keine realen Bezüge, sondern entstehen vielmehr aus sich selbst heraus. Asketisch, ruhig, klar und zurückgenommen sollen sie in ihrer Einfachheit eine in den Bann ziehende Wirkung durch Licht-(Einwirkung) erzielen. Dafür bedarf es einer weniger rationalen Erkenntnissuche als vielmehr eines meditativen Sich-Einlassens. Dann mag sich ereignen, was ein Junge vor einer Stele formulierte: „Es zaubert.“

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Herbert Blazejewicz, o. T., Acrylglas

Herbert Blazejewicz, o. T., Acrylglas

Herbert Blazejewicz, o. T., Acrylglas

Herbert Blazejewicz, o. T., Alufolie, Acrylfarbe

Februar-März

Helmut Lindemann, Theaterdole, 2010, Öl, Leinwand (Ausschnitt)

Helmut Lindemann, mal sehen

Beinahe hyperrealistisch malt Helmut Lindemann vermeintlich alltägliche Szenerien – und stellt durch Abweichungen unsere Sehgewohnheiten infrage. Mechanische Objekte belegen sein technisches Vermögen und spielerische Freude.

Vor einem schweren Theatervorhang hat sich eine Dohle auf ein schlichtes Kiefernholzkästchen nieder­gelassen und blickt – von der Bühnenbeleuchtung angestrahlt – interessiert umher. Flüchtig betrachtet, könnte es sich um eine Fotografie handeln. Doch wie wahrscheinlich ist ein solches Ereignis in einem Theater anzutreffen?

Diese magisch-realistische Szenerie hat der in Edewecht-Friedrichsfehn lebende Helmut Lindemann 2010 in Öl auf Leinwand "festgehalten". 1951 in Bremen geboren, brach er ein Studium der Mathematik und Jura in Freiburg und Berlin 1977 ab, um seinem Wunsch folgend, eine künstlerische Ausbildung bei der Bakenhus-Schülerin Marie Meyer-Glaeseker in Oldenburg zu machen. Von ihr erhielt er auch den kritischen Zuspruch zur Umsetzung eigener Vorstel­lungen, woraus sich sein bis zum Surrealismus und Hyperrealismus reichender Malstil entwickelte.

Der ausgeprägte Realismus der eingangs betrachteten Darstellung lässt an einen historischen Malerwettstreit denken: Im antiken Griechenland galten Zeuxis und Parrhasios als die ausgezeichnetsten Maler ihrer Zeit. Doch wollten beide wissen, wer von ihnen der überle­gene sei. Zeuxis malte auf einem Bild derart realistische Trauben, dass Vögel sie aufzupicken versuchten. Somit von seinem Sieg überzeugt, versuchte er den Vorhang vor einem Bild seines Kontrahenten beiseite zu schieben, um die verborgene Darstellung erblicken zu können – und wurde diesmal selbst durch den von Parrhasios meisterhaft gemalten Vorhang getäuscht.

Mit einem 1991 gemalten Vergaser erinnert Helmut Lindemann an einen bekannten Klassiker der Nach­kriegs-Avantgarde, Konrad Klapheck, der ab den 1950er-Jahren allerlei technische Geräte sachlich-präzise malte, wobei er sie teils rudimentär verfremdete oder völlig irreal komponierte. Gerade die nüchterne und damit technoide Darstellungsweise verführt zu einem nur flüchtigen Hinschauen, das ein Hinterfragen des Gesehenen kaum aufwirft: Weil das Dargestellte so ungeheuer realistisch erscheint, muss es wohl auch "stimmen". Umso größer das Erstaunen, wenn man dann den eigenen Irrtum bemerkt – wie in zahlreichen Bildern technischer Gerätschaften von Helmut Lindemann. So irritierte er etwa 1998 mit einem auch noch in realistischer Größe gemalten Fahrrad durch die Vertauschung von Lenker und Sattel. Doch erst der genauere Blick offenbart zahlreiche weitere Verkehrun­gen, die den eigentlichen Zweck ad absurdum geführt haben. Interessant ist die intellektuelle Parallele zu einem Markstein des Surrealismus, einem Werk René Magrittes von 1929: eine Pfeife mit der Inschrift "Ceci n'est pas une pipe". Schließlich handelt es sich um das Bild einer Pfeife. Diese Bewusstbarmachung als Teil des Bildes selbst vollzieht Lindemann 2004 bei einem Colt, der augenscheinlich auf ein Blatt Papier gemalt ist, das wiederum an eine imaginierte Wand gepinnt ist.

Aus seinem technischen Interesse und einem großen handwerklichen Vermögen erwachsen mechanische Bild-Welten, die von unsichtbaren Motoren angetrieben eine große Freude am Spiel offenbaren. In ihrer Zweckfreiheit und Komplexität – teils sind sie um akustische und lichttechnische Elemente erweitert – reichen sie durchaus Werken von Jean Tinguely die Hand.

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Helmut Lindemann, Theaterdole, 2010,
Öl, Leinwand

Helmut Lindemann, Carburetor, 1991,
Öl, Leinwand

Helmut Lindemann, The ambivalent Niece, 1998, Öl, Leinwand

Helmut Lindemann, Colt, 2004, Öl, Leinwand

Helmut Lindemann, Jojo, 2014,
Mechanik, Holz, bemalt

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